Im Detail: Die Legende von Sleepy Hollow
von Philipp Löhle nach einer Erzählung von Washington Irving
Aufführungsdauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause
ZUM STÜCK
Seltsame Dinge gehen in dem kleinen, verschlafenen Örtchen Sleepy Hollow vor: Man munkelt, Geister trieben da ihr Unwesen, die Dorfbewohner*innen hätten „Ekstasen und Visionen“ und vor allem warnen sie eindringlich vor der rastlosen Seele eines untoten hessischen Söldners, der 1776 im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gefallen ist und seither als kopfloser Reiter seinerseits die Hälse unvorsichtiger Besucher*innen des Dorfs durchtrennt. Eines Tages verschwindet ein Dorflehrer spurlos und das New Yorker Bildungsministerium schickt Ichabod Crane nach Sleepy Hollow, um ihn zu ersetzen. Crane hält nichts von Gemunkel und erst recht nichts von der Theorie, ein Geist hätte seinen Vorgänger auf dem Gewissen. „Entschuldigen Sie mal! Ich bin Lehrer! Pädagoge! Ein Studierter!“ – und darum der festen Überzeugung, diese Geistergeschichten mit Naturgesetzen entkräften zu können. Die Dorfbewohner*innen haben allerdings ihre eigenen Gesetze und Logiken entwickelt - unabhängig, anwendbar und aus einer schieren Notwendigkeit!
Crane versucht nach besten Kräften, das Einmaleins und ABC in die diesbezüglich erschreckend unbefleckten Köpfe der Kinder zu kriegen, dem Verschwinden seines Vorgängers auf den Grund zu gehen und dabei nicht selbst völlig den Kopf zu verlieren. Im übertragenen Sinne, selbstverständlich … oder?
VON DER LITERARISCHEN VORLAGE ÜBER DIE VERFILMUNG BIS AUF DIE BÜHNE
“Die Legende von Sleepy Hollow“ basiert auf der bekanntesten Kurzgeschichte des US-amerikanischen Autors Washington Irving. In der 1820 erschienenen Erzählung „The Legend of Sleepy Hollow“ ist es der Schulmeister Ichabod Crane, der fürchterlich abergläubisch ist. In Sleepy Hollow macht er sich einen Ruf als Schürzenjäger und Schmarotzer, der der schönen Katrina van Tassel aus wohlhabendem Haus nachstellt. Die Dorfbewohner*innen tischen ihm ausgedachte Schauergeschichten auf, um ihm Angst einzujagen und spielen ihm mutmaßlich einen Streich: Die Gestalt, die ihm eines Nachts zu Pferd hinterherjagt und scheinbar einen Kopf nach ihm wirft, könnte auch Brom sein, der verkleidete Gegenspieler Cranes mit einem Kürbis als Wurfgeschoss ...
1999 nimmt der US-amerikanische Filmregisseur Tim Burton den Stoff auf, verfremdet aber die Geschichte und Figuren stark. Crane ist hier ein sachlicher Ermittler, der nichts für Aberglauben übrig hat und merkwürdige Morde in Sleepy Hollow aufklären soll. Beharrlich ignoriert Crane alle Indizien für die tatsächliche Existenz von Magie und Geistern, bis er höchstpersönlich mit dem kopflosen Reiter konfrontiert wird. Seine Nachforschungen führen ihn zu einer Dorfbewohnerin, die ihre magischen Kräfte aus Rache und Habgier dazu einsetzt, den kopflosen Hessen zahlreiche Morde begehen zu lassen. Crane findet den Schädel des toten Soldaten, löst den Fluch, der auf dem Dorf lastet, und nimmt sich die Magierin Katrina van Tassel zur Frau.
Philipp Löhles Adaption lehnt sich sowohl an die literarische Vorlage als auch an die filmische Bearbeitung und fügt der Geschichte eine ganz eigene Wendung hinzu. Gemeinsam mit Christian Brey und Anette Hachmann geht er der Frage nach: Wie funktioniert Grusel im Theater? Und lässt sich eine Horrorstory mit Komödie versetzen?
ROLLENDE KÖPFE
Wir haben uns also mit dieser Produktion die Aufgabe gestellt, das Horrorgenre für die Bühne zu erkunden – ein Genre, das heutzutage eher im Film zu finden ist. Film kann den Eindruck von z. B. aufplatzenden menschlichen Brustkörben, aus denen Aliens schlüpfen oder übergroßen Affen, die eine Stadt verwüsten, herstellen, indem es mit Modellaufnahmen oder digital hinzugefügten Spezialeffekten arbeitet. Auch schnelle Schnitte, Nahaufnahmen und enge Blickführung sind maßgebliche Faktoren für die Wirkmechanismen von Horror im Film. Und im Theater? Die Unmittelbarkeit, Liveness und Nähe sind Eigenarten, die das Theater dem Film voraushat und durchaus für einen Grusel eingesetzt werden können. Trotzdem findet sich heutzutage eher selten Horror im Spielplan. Das war mal anders: Ende des 19. Jahrhunderts gründet sich in Paris das „Théâtre du Grand Guignol“ – das Zentrum von grausigem Schauertheater, kombiniert mit zotigen Komödien. Weniger Übernatürliches, sondern vielmehr grausame menschliche Abgründe finden sich im Spielplan. Psychokiller und Serienmörder sind die Hauptrollen, eimerweise Kunstblut fließt und tierische Augäpfel rollten über die Bühne. Der Schrecken wird legendär: Reihenweise Zuschauer*innen fallen während der Vorstellungen in Ohnmacht; sogar der Arzt, der eigens zur Versorgung dieser Menschen angestellt ist, verliert im Einsatz die Besinnung. Das Théâtre du Grand Guignol kann sich vor Publikum nicht retten – bis in die 1960er Jahre. Dann verliert es an Zuspruch und muss schließen, was auf zwei Gründe zurückgeführt wird: Die Gräuel des gerade zurückliegenden Zweiten Weltkriegs setzen der Lust an Schauertheater ein Ende. Und zweitens: Die Popularität von Kino steigt; wer sich gruseln will, schaut sich Hitchcocks „Psycho“ im Kino an. Nichtsdestotrotz wirkt sich das Theater des Grand Guignol auf Horror in Kunst, Film und Literatur aus.
DIE ABKEHR VON DER VERNUNFT
Das Horrorgenre selbst wiederum hat seine Ursprünge in der „Schwarzen Romantik“, eine Untergattung der Romantik, die Ende des 18. Jahrhunderts aufkam. Die Werke der Schwarzen Romantik in der bildenden Kunst und Literatur zeichnen sich durch eine düstere Färbung aus; die Motive und Schauplätze sind Friedhöfe, schummrige Kathedralen, neblige Gruften, in denen es spukt etc. – was heutzutage als die Standardklaviatur des Horrors gilt, wird in der Schwarzen Romantik etabliert. Gerade weil die Aufklärung nicht lange zurückliegt und ihre Ideale – hier vornehmlich Vernunft, Ratio und Sachlichkeit – das Unerklärliche in Wissenschaft und Gesellschaft entmystifizieren, erhält es Einzug in die Künste. Autor*innen wie auch Washington Irving widmen sich dem Übernatürlichen: Das literarische Genre der Schauerliteratur entsteht und erfreut sich besonders Anfang des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Psychische Untiefen, menschliche Abgründe und das Bestialische werden in den Werken angesteuert, Albträume werden motivisch erkundet – nicht zufällig sind diese auch zeitgleich Gegenstand der Forschung, wie sie in Freuds Traumdeutung und seiner Hinwendung zum Unbewussten prominent wird. Aus der Schauerliteratur entwickelt sich die moderne Horrorliteratur mit frühen Vertreter*innen wie Edgar Allan Poe, Ann Radcliffe und E. T. A. Hoffmann.
Unser Protagonist Ichabod Crane steht bei Löhle für Vernunft und rationale Bildung und wird konfrontiert mit der irrationalen, abseitigen Wirklichkeit der Dorfbewohner*innen von Sleepy Hollow. Und uns, dem Publikum, stellt sich die Frage: Entspringen die Geschehnisse im schläfrigen Tal lediglich der Fantasie seiner Bewohner*innen? Oder herrschen in dem Dorf tatsächlich andere Regeln als Cranes gern zitierte Naturgesetze – und welcher Weg führt zu seiner Rettung?
Regie: Christian Brey / Bühne, Kostüme: Anette Hachmann / Dramaturgie: Brigitte Ostermann, Eva Bode / Sounddesign: Thomas Esser / Animationen: Johanna Kaiser / Video: Martin Fürbringer / Licht: Frank Laubenheimer
Ichabod Crane: Maximilian Pulst / Reverend Steenwyk und Benjamin Steenwyk: Amadeus Köhli / Lady van Tassel und Katrina van Tassel: Elina Schkolnik / Balt van Tassel: Pius Maria Cüppers / Hans van Ripper und Maitje van Ripper: Pola Jane O' Mara / Kutscher, Ickebin Niemand und Brom Bones: Sascha Tuxhorn / Statisterie des Staatstheater Nürnberg
Die Hessen (Video):
Offizier: Stephan Schäfer / Feldkoch Heinz: Thomas Nunner / Hessi James: Justus Pfankuch / Soldat Horscht: Sasha Weis / Soldat Günter: Joshua Kliefert / Soldat Schmiddel: Luca Rosendahl
Regieassistenz und Abendspielleitung: Zoé Lorenz / Inspizienz: Tommy Egger / Soufflage: Beatrice Zuber / Dramaturgieassistenz: Eva Bode / Bühnenbildassistenz: Johanna Kaiser, Thays Runge / Kostümassistenz: Johanna Kaiser / Konstruktion: Marie Pons / Regiehospitanz: Caroline Nissen / Produktionshospitanz (Vorproben); Leitung Statisterie: Karin Schneider / Musikhospitanz (Vorproben): Paula Hayduk / Werkstudentin: Sophia Czerwinski (Vorproben), Emma Kappl (2024/25) / Freiwilliges kulturelles Jahr: Sabrina Haas, Paula Hayduk (Vorproben), Nele Marie Müller, Annett Novikov (2024/25)
Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben GmbH & Co KG, Berlin
Zur Veranstaltungsseite Die Legende von Sleepy Hollow
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