Staatstheater Nürnberg

Im Detail: Andersen oder was bleibt?

nach Märchen von H.C. Andersen in einer Fassung von Cosmea Spelleken

Andersen header

Aufführungsdauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause


„Da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz; von der Tänzerin hingegen war nur der Stern noch da, und der war kohlschwarz gebrannt.“ Das hier zitierte Märchen von Hans Christian Andersen, Der standhafte Zinnsoldat, zählt zu den bekanntesten Schriften des weltberühmten dänischen Autors und Dichters. Was von dieser Geschichte bleibt, ist, wie so oft in seinen Erzählungen, ein tragisches Ende für die darin vorkommenden Figuren – obwohl wir bei der kleinen Meerjungfrau vielleicht nicht zuerst an das tragische Ende der Geschichte – ihre Auflösung in Schaumkronen – denken, sondern an das Zeichentrick-Happy End aus dem Hause Disney. Und das ist schon bemerkenswert: Keine 150 Jahre nach Andersens Tod in Kopenhagen, ist zumindest diese eine seiner Figuren Milliarden Menschen bekannt – und war kürzlich sogar noch Gegenstand einer milden Kontroverse, natürlich in der x-ten Iteration. Andersen hätte es sich zu Lebzeiten sicher nicht vorstellen können, welche Wellen sein tragisch-romantisches Kunstmärchen noch schlagen würde.

Andersen HP1 0077Foto: Konrad Fersterer

Wer hat es also in der Hand, wie wir erinnert werden, wenn wir gehen müssen? Durch welche Mittel und in welche Räume schreiben sich unsere Geschichten fort? Regisseurin Cosmea Spelleken stellt in ihrem Stück den bekannten Schriftsteller selbst in den Mittelpunkt und verarbeitet in fragmentarischer Form die Funde ihrer Spurensuche: Hautnah und fantasievoll erzählt Hans Christian Andersen, gespielt von Julia Bartolome, von intensiven Begegnungen und abenteuerlichen Reisen, von Zweifeln und Euphorie. Dabei ringt er stets um sein Vermächtnis, das seinen Schatten bereits voraus wirft: in einem durchaus buchstäblichen Sinne. Denn obwohl die Schauspielerin allein auf der Bühne steht, hat sie durchaus Spielpartner, die per Video zugespielt werden. Zentral hierbei ist die Figur des Schatten, eine Manifestation der düsteren Gedanken und Selbstzweifel, die wohl die meisten Künstler begleitet – ein verfremdetes Video der Schauspielerin selbst. Auch der Tod kommt vor, ebenfalls steter Begleiter vor allem romantischer Schriftsteller – er wird durch einen rauschenden Fernseher symbolisiert. Darüber hinaus interagiert der vor 150 Jahren gestorbene Dichter mit Sprachnachrichten, Videocalls, VHS-Kassetten und Overheadprojektoren; dem realen Andersen hätte das wohl gefallen, er war ein großer Freund moderner Technik und ließ sich beispielsweise dutzende Male fotografieren. Technische Faszination und Erfindungen, die auch Andersens Lebenswelt beeinflussten, tragen im Kontext des Erinnerns die Frage nach dem Verhältnis von Originalität und Kopie, Flüchtigkeit und Archivierung auf dem Tableau. Nicht zuletzt zeigt sich diese Thematik auch in der von Spelleken entworfenen Figurenanlage und der Brücke, die sie thematisch zur Kunst schlägt. Für Julia Bartolome ist die spezielle Form eine große Herausforderung, da sie keine Energien und Motivationen von menschlichen Spielpartnern bekommen kann, gleichzeitig aber nicht wie in einem reinen, klassischen Monolog sich selbst einen dramatischen Bogen über den ganzen Abend bauen kann, den sie komplett in der Hand hat – sie ist im steten Dialog mit Video und Medien. Und genau daraus zieht diese Inszenierung auch eine besondere Faszination: die lebendige Schauspielerin wird zur Führerin in einem Labyrinth anthropomorpher Multimedia.

Andersen HP1 0521Foto: Konrad Fersterer

Bekannt wurde Spelleken 2021: in der Hochzeit der Coronapandemie, zwischen Lockdown und Maskenpflicht, als konventionelle Theater zum Schutze der Allgemeinheit kein Publikum zulassen konnten – in dieser Ausnahmesituation entwickelte sie werther.live, eine Instagram-Theaterinszenierung, die kein physisches Publikum benötigte. Allerdings verzichtete sie nicht auf die Kernfunktion des Theaters, die gleichzeitige Anwesenheit von Publikum und Akteuren: die Zuschauenden konnten in Echtzeit mit den Accounts der Figuren chatten. Mit "Andersen oder Was bleibt?", ihrer nach "odysseus.live" bereits dritten Theaterabend, entwickelt sie die Handschrift des Transmedialen weiter, deren technische Seite wie auch in den anderen Arbeiten Spellekens durch den Video- und Medienkünstler Leonard Wölfl realisiert wird: er schafft den digitalen Bühnenraum, in welchem die Arbeit Gestalt findet. Aber auch der physische Raum trägt zu dem Gesamterlebnis bei. Ausgerechnet im XRT, einem der modernsten Theaterräume Deutschlands, finden sich uralte Röhrenfernseher, Tageslicht- und Diaprojektoren sowie funktionsfähige VHS-Rekorder. So werden unterschiedliche Materialitäten und Medien zu einem ästhetisch erfahrbaren Bühnenerlebnis.

Andersen HP1 0290Foto: Konrad Fersterer

Übrigens wurde auch "Der standhafte Zinnsoldat" verfilmt – von Ub Iwerks, 1934. Und 90 Jahre später ist der Trickfilm – im Bezug auf Bildsprache und Motivik – wesentlich schlechter gealtert als das 80 Jahre ältere Kunstmärchen. Allerdings ist auch die frühe Verfilmung kürzlich selbst wieder als Basis für ein Video genommen worden – vermutlich ist es das was bleibt: Geschichten, immer wieder neu gedacht, immer wieder zugänglich gemacht für die Zeitgenossen.


Julia Münte und Konstantin Küspert


Regie: Cosmea Spelleken mit Julia Bartolome und Leonard Wölfl / Technische Konzeption: Leonard Wölfl / Dramaturgie: Konstantin Küspert / Künstlerische Produktionsleitung: Greta Călinescu / Licht: Wolfgang Köper / Veranstaltungstechnik XRT: Norbert Böhringer, Nils Riefenstahl


Mit: Julia Bartolome


Regieassistenz und Abendspielleitung: Zoé Lorenz / Regiehospitanz: Julia Münte / Werkstudentin: Sophia Czerwinski / Freiwilliges Kulturelles Jahr: Sabrina Haas


Aufführungsrechte: schaefersphilippen, Theater und Medien GbR


Mit freundlicher Unterstützung von DATEV


Passend dazu:

Nach oben