Staatstheater Nürnberg

Die Schwelle - Eine Erinnerung, dass wir viele sind

Im Rahmen des „Programms 360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ der Kulturstiftung des Bundes setzt das Staatstheater Nürnberg sich intensiv damit auseinander, wie zeitgemäßes Theater für eine diverse Stadtgesellschaft aussehen kann. Der Organisationsentwicklungsprozess hin zu einer diversitätsorientierten, offenen und diskriminierungsarmen Kulturinstitution wird von zwei 360°-Referentinnen begleitet. Sie arbeiten gemeinsam mit vielen unterschiedlichen Abteilungen an diesem umfassenden Prozess. Schon früh ist in diesem Prozess innerhalb der Sparte Schauspiel die Idee entstanden, sich den aufkommenden Fragen auch in künstlerischer Form zu stellen: Wie schaffen wir es, dass sich möglichst jede*r von uns eingeladen fühlt? Welche und wessen Geschichten erzählt, welche Themen und Perspektiven repräsentiert das Staatstheater – und wie?

Dabei stand bald fest, dass die Frage nach Öffnung einhergeht mit der Frage nach Ausschlüssen. Welche Schwellen sind es, die Zugänge verhindern und was muss verändert werden, wenn es darum geht, offener, zugänglicher, barriereärmer und niedrigschwelliger zu werden?

Die Sparte Schauspiel und die 360°-Referentinnen haben daher unter dem Titel „Die Schwelle“ Künstler*innen eingeladen, die gedankliche, aber auch konkret räumliche Schwelle zwischen Stadtgesellschaft und (Staats-)Theater mit künstlerischen Mitteln zu untersuchen. Um den Auswahlprozess möglichst offen und barrierearm anzulegen, entschied die Sparte sich für eine öffentliche Ausschreibung, die im Juli 2020 veröffentlich wurde und sich insbesondere an Interessierte mit postmigrantischer oder BIPoC-Perspektive [1] richtete. Der Auftrag: sich diskursiv, partizipativ und performativ mit dem (Staats-)Theater und seiner Rolle in und für die diverse Stadtgesellschaft Nürnbergs auseinanderzusetzen. Der Fokus lag dabei nicht nur auf dem Ergebnis, sondern vor allem auch auf dem künstlerisch-forschenden Prozess, in dem folgende Fragen eine zentrale Rolle spielten: Wer kommt rein und wer bleibt draußen? Und warum? Wo müsste man ansetzen, damit sich das ändert? Wie kann eine Theaterinstitution inhaltlich wie strukturell neu gedacht werden – und zwar ganz konkret in und für Nürnberg?

Auf die Ausschreibung meldeten sich mehr als 50 Künstler*innen und Kollektive, deren Bewerbungen im Herbst 2020 von einer interdisziplinären Jury gesichtet wurden. Diese bestand aus: Reyhan Şahin aka Lady Bitch Ray (Sprachwissenschaftlerin, Performance-Künstlerin, Rapperin und Buchautorin), Christina Zintl (ehemalige Dramaturgin Staatstheater Nürnberg Schauspiel), Tunçay Kulaoğlu (Autor, Filmemacher, Dramaturg, Kurator) und Julian Warner (Dramaturg, Musiker, Autor, Kultur- und Sozialanthropologe).

Die Wahl der Jury fiel schließlich auf das damals noch mit dem Arbeitstitel „GIGS“ versehene künstlerische Forschungsprojekt des Instituts für Affirmative Sabotage.

Auszug aus der Begründung der Jury

"Die Einreichung überzeugt die Jury, weil das Projekt prozessorientiert ist und so das Potential hat, einen nachhaltigen Austausch über diskriminierende Ausschlüsse anzustoßen. Das Projekt ist klar aufgebaut, lässt aber in der konkreten Ausgestaltung genug Spielraum für eine Mitarbeit und aktive Beteiligung durch das Schauspiel. Wir begrüßen die im Projekt geplante gezielte Zusammenarbeit mit Nürnberger:innen, die Personengruppen angehören, die von rassistischer Diskriminierung betroffen sind. Neben der Identifikation von Barrieren und der Ermöglichung von Gesprächen darüber, fragt das Projekt nach Möglichkeiten der Überwindung dieser Ausschlüsse. Lecture Performances erscheinen uns als geeignetes Mittel einer beteiligenden und empowernden künstlerischen Umsetzung der Recherche, um die Perspektiven auf Barrieren für das Staatstheater Nürnberg und das Publikum erfahrbar zu machen."

Hier könnt ihr die vollständige Begründung nachlesen.

Das Institut für affirmative Sabotage wurde 2020 von Miriam Yosef und Thu Hoài Tran entwickelt mit dem Ziel, (hegemonial)kritisch in die eurozentrische Kultur- und Wissensproduktion zu intervenieren. Es arbeitet mit dem Ansatz der Affirmativen Sabotage nach der postkolonialen Theorie Gayatri Chakravorty Spivaks [2].

Von April bis Juni 2021 hielten die Künstler*innen sich für insgesamt 4 Wochen zur Recherche in Nürnberg auf. Die Recherche umfasste Archiv- und Literaturrecherchen im Stadtarchiv der Stadt Nürnberg, dem Jüdisches Museum in Fürth und dem Archiv Metropolitan in Nürnberg. Während der Rechercheaufenthalte führte das Institut Einzel- und Gruppeninterviews mit Mitarbeiter*innen des Staatstheaters, Wissenschaftler*innen und aktiven Angehörigen marginalisierter Gruppen der Stadtgesellschaft. Darunter waren: ein Historiker aus der jüdischen Gemeinde, die Black Community Foundation, Moin e.V. – Migranten Organisationen in Nürnberg, der Verband Deutscher Sinti und Roma Landesverband Bayern e.V., die Historikerin Nadja Bennewitz, die Historikerin Gaby Frange, Alexander Schmitt vom Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg, Gerhard Jochem vom Stadtarchiv Nürnberg, Akteur*innen des NSU-Tribunals, die Initiative kritisches Gedenken sowie zahlreiche Mitarbeiter*innen des Staatstheaters, darunter die Leiterin des Bauunterhaltes, Silke Ludwig und die Leiterin der Vermittlungsabteilung „PLUS“, Anja Sparberg.

Auf der Grundlage der Erfahrungen und Erkenntnisse aus den Gesprächen und Recherchen entstand im Juni 2021 ein erster Textentwurf für eine Lecture-Performance für 3 Performer*innen. Die Stückfassung war so gestaltet, dass sie noch Lücken für die Mitgestaltung durch die Performer*innen zuließ. Es war wesentlicher Teil des Konzeptes, Menschen zu beteiligen, die selbst Angehörige von im Theater unterrepräsentierten Gruppen sind. Mit einem Open Call hat das Institut für affirmative Sabotage gemeinsam mit dem Staatstheater Nürnberg im Mai interessierte Laien und Profis aus Nürnberg und Region zur Bewerbung aufgefordert. Nach einer Vorsprechrunde haben sich die beiden Künstler*innen des Instituts und drei am Thema interessierte, selbst von struktureller Diskriminierung betroffene Performer*innen, für eine Zusammenarbeit entschieden:

Anatoliy Kobrynskyy, Irfan Taufik und Yudania Gómez Heredia haben gemeinsam mit den nun Regie führenden Künstler*innen Miriam Yosef und Thu Hoài Tran den Bühnentext in nur zwei Wochen weiterentwickelt, viel diskutiert und geprobt. Die Proben wurden begleitet von der Dramaturgieassistentin Ceren Kurutan, der Regieassistentin Amrei Scheer und der 360° Agentin Lisa Hrubesch. Gleichzeitig entstanden englische und deutsche Untertitel, bei denen Wesley Moore unterstützt hat.

Das inzwischen „Eine Erinnerung, dass wir Viele sind“ genannte Stück feierte am 13. Juli 2021 Premiere in den Kammerspielen. Diese und zwei Folgevorstellungen am 14. Und 15. Juli waren ausverkauft. Ein Flyer informierte über die Hintergründe des Stückes. Im Anschluss an den Premierenabend fand ein Nachgespräch mit den Künstler*innen und Vertreter*innen verschiedener marginalisierter und von Rassismus betroffener Gruppen aus der Stadtgesellschaft statt. Zühre Özdemir-Hohn (herkunftsunabhängige Migrantenselbstorganisation MoiN e.V.) Roberto Paskowski (Landesverband der Sinti und Roma Bayern), Haim Ben Schlomo (Jüdischer Studierenden Verband Franken e.V.), und Lena Meinhold (Black Community Foundation Nürnberg) sprachen über Identifikationsmomente in der Inszenierung und darüber, was das Stück und die verhandelten Themen für sie bedeuten und welche Wünsche sie an das Theater haben. Auch das Publikum beteiligte sich rege an dem Austausch, der simultan ins Englische und in Gebärdensprache gedolmetscht wurde.

Das Projekt hat nicht nur inhaltlich wesentliche Fragen für das Staatstheater aufgegriffen und durch einen partizipativen Prozess einen künstlerischen und öffentlichen Beitrag zur Diskussion geleistet, sondern war selbst auch in der Form der Ausschreibung und Auswahl durch eine externe Jury und großen Unabhängigkeit der Künstler*innen ein Experiment zur Öffnung. Der Prozess wurde von zwei moderierten Werkstattgesprächen mit den Künstler*innen, den 360°-Referent*innen und den Dramaturg*innen des Schauspiels begleitet.

Die öffentlich zugängliche Kurzdokumentation des Projekts, die Ergebnisse und Erkenntnisse aus dem Prozess und den Gesprächen mit Vertreter*innen der vielfältigen Stadtgesellschaft zusammenfassen sollte, war Bestandteil des Konzeptes des Instituts für affirmative Sabotage. Mit einigen Wochen Abstand hielten sich Miriam Yosef und Thu Hoài Tran im September 2021 abschließend eine Woche in Nürnberg auf um das Projekt zu dokumentieren. Neben dem Abschluss einer Videodokumentation, die während der Proben begonnen wurde, haben sich die Künstler*innen dazu entschieden, eine schriftliche Dokumentation in Form eines Briefes an das Staatstheater zu verfassen.

Eine Erinnerung, dass wir viele sind

Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

[1] BiPOC: Abkürzung für Black, Indigenous and People of Color. Damit meinen wir alle Personen und Gruppen, die vielfältigen Formen von Rassismus ausgesetzt sind und die die gemeinsame, in vielen Variationen auftretende und ungleich erlebte Erfahrung teilen, aufgrund körperlicher und kultureller Fremdzuschreibungen der Weißen Dominanzgesellschaft als ‚anders‘ und ‚unzugehörig‘ definiert zu werden.

[2] Spivak, Gayatri Chakravorty (2012): An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge/London: Harvard University Press.

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